In Kreuzlingen dürfen die meisten Steuerzahler weder wählen noch abstimmen, weil sie Ausländer sind: Grenzübergang zu Konstanz.

Wo die Mehrheit keine Wahl hat

Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung darf nicht wählen. Nirgends ist das Demokratie­defizit so krass wie in Kreuzlingen.

Eine Reportage von Carlos Hanimann (Text) und Philip Frowein (Bilder), 14.10.2019

Die Schweiz ist dort am schönsten, wo man über ihre Grenze tritt. Das gilt besonders, wenn die Grenze ihre eigentliche Daseins­berechtigung aufgegeben hat und nicht mehr trennt, sondern verbindet. Zum Beispiel zwei Städte. Zum Beispiel Kreuzlingen und Konstanz.

Es ist ein kühler Herbsttag am Hauptzoll zwischen den beiden Städten, die Sonne sticht durch die Wolken, und aus dem Zoll­häuschen in der Strassen­mitte gähnt die Leere. Die rot-weisse Tafel mit der Aufschrift «Zoll/Douane» dient nicht mehr als Hinweis, sondern als Fotosujet für Einkaufs­touristen. Die Grenze als Folklore in der Fussgängerzone.

Kreuzlingen, Thurgau, Grenzstadt am Bodensee, 22’000 Einwohner, 12’000 davon ohne Schweizer Pass.

Keine andere Stadt in der Deutsch­schweiz hat einen so hohen Ausländer­anteil: 54,8 Prozent waren es per Ende September 2019. Auch in der Westschweiz leben einzig in Leysin mehr Ausländer (62 Prozent).

In der Schweiz verfügt heute ein Viertel der gesamten Bevölkerung nicht über die Schweizer Staats­bürgerschaft und ist damit von politischen Prozessen ausgeschlossen. Rund 1,6 Millionen Menschen dürfen nicht wählen, nicht abstimmen – und sich auch nicht in Ämter wählen lassen. Sie sind ohne politische Rechte. Aber nirgends ist dieses Demokratie­defizit so krass wie in der Stadt am Bodensee.

Bei den letzten nationalen Parlaments­wahlen vor vier Jahren waren in Kreuzlingen 8467 Personen wahl­berechtigt – eine knappe Minderheit. 3815 Personen gaben ihren Wahl­zettel ab, nur 17 Prozent der Kreuzlinger wählten also mit, wer ins Parlament in Bern einziehen sollte.

Die kantonalen Wahlen ein Jahr später waren nicht besser. Nur 2733 Personen wählten – jeder Zehnte in Kreuzlingen. Bei der lokalen Abstimmung für ein neues Hallen­bad immerhin stimmten etwas über 4000 Personen ab.

Die Zahlen zeigen: Kreuzlingen ist die undemokratischste Stadt der Schweiz. Denn hier ist längst Realität, was Statistikerinnen auch für grössere Städte wie etwa Basel voraussagen: dass schon in naher Zukunft die Mehrheit der Bevölkerung von demokratischen Prozessen ausgeschlossen sein könnte.

Wie geht eine Stadt damit um, wenn nur eine Minder­heit über politische Rechte verfügt? Was hält die schweigende Mehr­heit davon? Und welche Mittel gibt es, um diesen Fehler im System zu korrigieren?

Bedauern im Stadtpräsidium

Thomas Niederberger hat in seinem ganzen Leben noch keine Abstimmung und keine Wahl verpasst. Zumindest erinnert er sich nicht daran, sagt er. «Wahlen waren für mich immer etwas enorm Wichtiges, weil damit die Weichen gestellt werden. Ich habe es immer als absolute Pflicht gesehen, zu wählen und abzustimmen.»

«Der ganze Kanton Thurgau hat ein Demokratie­defizit»: Thomas Niederberger, Stadt­präsident von Kreuzlingen.
Impressionen aus der Stadtverwaltung: Schachteln mit leeren Couverts.

Niederberger steht in einem Raum der Stadt­verwaltung Kreuzlingen, Spannteppich am Boden, in der Ecke ein Teddybär, an der Wand der Zonenplan der Stadt. Das Büro ist Thomas Niederbergers Arbeits­platz. Der 49-Jährige ist seit eineinhalb Jahren Stadt­präsident von Kreuzlingen. Zuvor war der gebürtige St. Galler Stadt­schreiber, ehe er als Parteiloser für das Stadt­präsidium kandidierte, im ersten Wahlgang das beste Ergebnis erzielte und im zweiten Wahlgang konkurrenzlos gewählt wurde. Nach der Wahl trat er der FDP bei.

Auf den hohen Ausländer­anteil angesprochen, sagt Nieder­berger, die Zahl töne spektakulär, aber im Alltag spiele sie kaum eine Rolle. «Dass die Leute staunen, werte ich als gutes Zeichen: Sie haben offenbar nichts Schlechtes darüber gehört.» Es stimme ohnehin nicht, dass eine hohe Ausländer­quote etwas Negatives bedeute, sagt Nieder­berger. «Wir leben in Kreuzlingen sehr harmonisch zusammen.»

Die hohe Anzahl Ausländer hat in Kreuz­lingen eine lange Geschichte. Schon vor dem Ersten Welt­krieg stammten 58 Prozent der Bewohnerinnen der Grenz­stadt aus dem Ausland. Nach dem Zweiten Welt­krieg sank die Zahl und stieg dann langsam wieder an. Vor allem seit der Einführung der Personen­freizügigkeit vor 12 Jahren zog die Grenz­stadt viele Migrantinnen an, besonders aus dem benachbarten Norden. Anders als im Tessin oder in der West­schweiz sind Grenz­gänger in Kreuzlingen kein grosses Thema. Statt täglich über die Grenze zu pendeln, ziehen die Deutschen lieber gleich in die Schweiz. Rund 30 Prozent der Kreuzlinger Bevölkerung stammen heute aus Deutschland.

Warum?

«Weil Kreuzlingen viel zu bieten hat», sagt der Stadt­präsident. Aber er fügt gleich selber an, dass die Zuwanderung nicht nur an der Anziehungs­kraft seiner Stadt liege, sondern auch an den Problemen der Nachbar­stadt Konstanz: Wohnungs­not, hohe Mieten, hohe Steuern.

Einen Nachteil aber habe die heutige Situation, sagt Thomas Nieder­berger. «Unsere ausländischen Mitbürger dürfen nicht abstimmen. Das ist etwas, das sie beschäftigt und das auch mich beschäftigt, weil ich immer wieder darauf angesprochen werde. Diese Leute zahlen Steuern, teilweise seit Jahr­zehnten, aber mitbestimmen dürfen sie nicht. Das bedaure ich.»

Einzige Alternative: Ausländerbeirat

Damiano Pisconti ist keiner, der in die Schweiz eingewandert ist. Er ist vielmehr einer, der zurückkehrte – obwohl man ihm das nicht gerade leicht machte.

Pisconti, ein schlanker Mann mit dunklem Bart, kam vor 47 Jahren in Romans­horn zur Welt, wuchs in Amris­wil auf, redet mit hellem Thurgauer Dialekt, trägt praktische Schuhe und eine graue Multifunktions­jacke. Einen roten Pass hat er nicht – obwohl er die formalen Bedingungen längst erfüllen würde.

Er trage den Gedanken, sich einbürgern zu lassen, zwar schon lange mit sich, aber ein Gesuch hat er, wie viele andere, nie gestellt. «Es gibt Leute, die sehen die Einbürgerung als praktische Gelegen­heit: Mit dem Pass ist der Platz in der Gesell­schaft gesichert. Ich denke anders. Für mich ist das eine Prinzipien­frage: Ich will nicht aus Eigen­nutz Schweizer werden, sondern aus Über­zeugung und Leidenschaft.»

In der undemokratischsten Stadt der Schweiz: Wohnblock auf den Hügeln Kreuzlingens.
«Natürlich würde ich am 20. Oktober gerne wählen»: Damiano Pisconti, gebürtiger Romanshorner ohne Schweizer Pass.

Als Pisconti in der dritten Klasse war, zogen seine Eltern zurück nach Italien. Pisconti musste sich wider­willig fügen. Er wäre gerne hier geblieben. Der Junge setzte sich in den Kopf, irgendwann in die alte Heimat zurück­zukehren, in das Land, in dem er geboren wurde, in das Land, das er in Italien so vermisste. Nach Abschluss der Schule wollte er in die Schweiz. Doch hier durfte er nicht sein, denn er hatte keine Aufenthalts­bewilligung und keine Arbeit.

Pisconti zog statt­dessen nach Konstanz, wo er an die Universität ging. Erst nach dem Studium kam er über die Grenze. Als Software­ingenieur war er jetzt eine willkommene Fachkraft.

Seit 2002 lebt Pisconti wieder in seinem Geburts­land, seit 17 Jahren – ohne politische Rechte.

«Man gewöhnt sich daran», sagt Pisconti. «Natürlich würde ich am 20. Oktober gerne wählen, aber ich kenne es nicht anders.» Es klingt, als hätte sich Pisconti damit abgefunden. Tatsächlich aber ist er vor einigen Jahren auf eine Alternative gestossen: den Ausländer­beirat. Seit fünf Jahren ist er Mitglied, seit Kurzem steht er dem Beirat vor.

Der Ausländerbeirat wurde in Kreuzlingen vor über einem Jahrzehnt geschaffen, um dem Demokratie­defizit entgegenzu­wirken. 12 Mitglieder aus 9 Nationen treffen sich mehrmals pro Jahr und tauschen sich aus. Der Beirat hat nur eine beratende Funktion, aber mittler­weile wird er bei verschiedenen Geschäften des Stadt­rats zurate gezogen. Derzeit berät etwa eine Muslimin den Stadt­rat beim Bau des neuen Hallenbads.

Das ist denn auch, was Pisconti viel mehr umtreibt als nationale Wahlen: die Lokalpolitik.

Diese Entscheide betreffen ihn unmittelbar. Und er kommt auch finanziell für sie auf. «Die Leute vergessen es im Alltag vielleicht, aber es gibt ein riesiges Manko, wenn nur 45 Prozent der Bevölkerung überhaupt über solche Fragen abstimmen dürfen.»

In den vergangenen Jahren entschieden die Schweizer in Kreuzlingen zum Beispiel über: ein neues Stadt­haus für 47 Millionen (angenommen), ein neues Hallen­bad für 37 Millionen (angenommen), die Erhöhung des Beitrags für Schulen mit Tages­struktur auf 900’000 Franken (angenommen) und einen Kunstrasen­platz für den Kreuzlinger Fussball­club AS Calcio für 2,5 Millionen (abgelehnt).

Zwei Grenzstädte: der Blick über Kreuzlingen auf Konstanz.
Grenzübergang am Kreuzlinger Tor.
Wahlplakate an der Einfahrt nach Kreuzlingen.

«Es erschwert die Identifikation mit der Stadt, wenn man bei diesen Fragen nicht mitreden kann», sagt Stadt­präsident Nieder­berger. Immer wieder höre er aus der Bevölkerung, dass man sich als Ausländer nicht gleich integriert fühle wie die Schweizerinnen.

Niederberger bedauert, dass sich die «ausländischen Mit­bürger», wie er sie nennt, nicht an den demokratischen Prozessen beteiligen dürfen.

Findet er auch, dass Kreuz­lingen ein Demokratie­defizit hat?

«Nicht Kreuzlingen. Der ganze Kanton Thurgau hat ein Demokratie­defizit. Wenn man etwas ändern will, muss man das auf kantonaler Ebene ermöglichen. Ich habe immer gesagt, dass die Gemeinden selbst­ständig darüber entscheiden können müssten, ob sie das Stimm­recht für Ausländer auf kommunaler Ebene einführen wollen. Und dazu stehe ich auch.»

Warten auf die Demokratie­debatte

Mittlerweile gibt es in der Schweiz zahlreiche Gemeinden, die das kommunale Stimm­recht für die Bevölkerung ohne Schweizer Pass kennen. Die meisten liegen in der französisch­sprachigen Schweiz. Aber auch in Graubünden und im Kanton Appenzell Ausserrhoden dürfen Ausländerinnen in lokal­politischen Angelegen­heiten abstimmen.

Und doch hat es das Stimm­recht für Ausländer bei den Schweizern so schwer wie kaum ein anderes politisches Anliegen – selbst in rot-grünen Städten wie Basel und Zürich. In Zürich wurde eine Initiative für «Mehr Demokratie» im Jahr 2012 mit 76 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. In Basel war eine ähnliche Abstimmung zwei Jahre zuvor noch deutlicher ausgefallen.

In Basel hat man deshalb beschlossen, alternative Wege einzuschlagen. Anfang November findet zum zweiten Mal eine Migranten- und Migrantinnensession statt. Rund 35 Teilnehmende arbeiten zurzeit in vier Gruppen an politischen Vorstössen. Politikerinnen im Grossen Rat über­nehmen diese dann und reichen sie im eigenen Namen ein, ausgewiesen als Ergebnis der Migrantensession.

Natürlich sei das auf Dauer keine Alternative, sagt Tatiana Vieira, Radio­journalistin und Präsidentin des Vereins Mitstimme, der die Migranten­session in Basel organisiert. «Aber was sollen wir sonst tun?» Man wolle nicht warten, bis die Schweizer endlich bereit seien, sich auf die migrantische Wirklich­keit einzulassen. «Wir zeigen schon jetzt, dass es Leute gibt, die ihre politischen Rechte wahr­nehmen und mitbestimmen wollen – auch wenn man sie nicht lässt.»

Vieira versteht nicht, warum die Schweizer nicht mehr Demokratie wagen wollten. Es werde keinen Links­rutsch geben und niemandem etwas weggenommen. Im Gegenteil. «Es würde die Demokratie erweitern, sie stärken.» Was sie ärgert: «Es findet in diesem Land keine Reflexion über diese Demokratie statt, die einen Viertel der Menschen ausschliesst. Der heutige Zustand ist schlicht undemokratisch.»

Mit der Migranten­session versuche man, auf das Thema aufmerksam zu machen, im Parlament und in der Bevölkerung für das Anliegen zu lobbyieren. Vieira lebt seit 13 Jahren in der Schweiz, derzeit befindet sie sich im Einbürgerungs­verfahren. «Ich zahle meine Steuern, erfülle meine Pflichten als Bürgerin. Ich interessiere mich für Politik und Gesell­schaft, setze mich aktiv ein – und darf nicht mitbestimmen. Aber ein Unter­nehmer, der seit 30 Jahren in Südafrika sitzt und kaum betroffen ist von den Auswirkungen politischer Entscheide, darf wählen und abstimmen? Das ist doch ein schlechter Witz.»

Ein schwieriges Thema

Damiano Pisconti äussert sich zurück­haltend, wenn er auf das Ausländer­stimmrecht angesprochen wird. Eine Frage der Strategie: Wie erreicht man Aufmerksam­keit, ohne die Leute vor den Kopf zu stossen? «Wie bringt man die Schweizer dazu zu sagen: Stimmt eigentlich, die haben einen Punkt. Es ist absurd, dass die Hälfte der Bevölkerung nicht mitreden kann.»

Pisconti sagt, man müsse sich die politischen Kräfte­verhältnisse im Thurgau vor Augen führen. Wenn das Ausländer­stimmrecht selbst in rot-grünen Städten wie Basel oder Zürich chancenlos sei, könne man sich ausrechnen, wie das im Thurgau ausgehe. «Der Thurgau ist nicht Genf», sagt Pisconti. «Und Kreuz­lingen ist nicht Thurgau. Nicht alle Gemeinden haben die gleiche Realität wie wir.»

Und doch, sagt Stadt­präsident Nieder­berger, könnte schon bald Bewegung in die Sache kommen. Es gebe Bestrebungen, die Frage des Ausländer­stimmrechts voranzu­treiben und bald wieder auf die politische Agenda zu bringen. «Vielleicht schon in wenigen Monaten.»

Manchmal, erzählt Damiano Pisconti, werde er gefragt, was der Ausländer­beirat denn überhaupt bringe, welchen Einfluss er habe, welche Erfolge er vorzuweisen habe. Pisconti atmet tief durch. Ein schwieriges Thema. Man verändere die Welt nicht an einem Tag. Alles brauche seine Zeit. In der Politik sowieso.

«Wir reden», sagt Pisconti dann. «Meine Antwort lautet: Wir werden gefragt, wir können unsere Über­legungen darlegen, wir reden.»

Und dann?

«Manchmal passiert etwas. Ganz oft aber auch nicht. So ist die Politik.»